Ein Bericht für eine Akademie - Schauspiel Essen
Wehe den Juror*innen!
28. August 2022. Von der Menschwerdung eines Affen berichtet Franz Kafkas "Ein Bericht für eine Akademie". In der kleinen Casa des Essener Grillo Theaters bringt Zafer Tursun die Erzählung mit Gespür für gesellschaftliche Verwerfungen entlang ethnisch-kultureller Grenzlinien auf die Bühne.
Von Karin Yeşilada
28. August 2022. Auf dem Weg zum Grillo Theater durch die Kettwiger Straße in Essen: Vollster Betrieb, jede Menge Einwandererfamilien, links ein Baugerüst in Ukraine-solidarischem Gelb-Blau eingekleidet, schräg gegenüber ein Fashion-Geschäft mit orientalischen Gewändern. In der Casa des Grillo Theaters dann ein erfreulich volles Haus mit vielen jungen Menschen. Während sie die Plätze einnehmen, sitzen die Schauspieler schon auf der ebenerdigen Bühne in Positur.
Die Akademie sind wir
Einer erhebt sich, geht zum seitlich den Bühnenraum begrenzenden Klavier, spielt eine leise Melodie. Und dann legt der andere los, der große Rezo Tschchikwischwili, minutenlang, noch bevor er spricht, mit bedeutender Mimik: Zappeln, in Pose setzen, das Publikum fixieren, nervöses Lächeln, ein Anlauf, noch ein Anlauf, dann erhebt er sich, steht aufrecht – und er spricht! So ähnlich muss sein Durchbruch gewesen sein, vom Affen zum Menschen. Er spricht, mit sonorem Timbre, großer Geste und einer unschlagbaren Erfahrung des Lebensweges vom Opfer zum Star, zum Verzauberer des faszinierten Publikums – wir. Und dann als Berichtender für die "Werte Akademie!" – wieder wir. Wozu aber berichtet er? Das mag sich schon Kafkas Lesepublikum 1917 bei Erscheinen der Erzählung gefragt haben. Worüber entscheiden wir Akademiemitglieder? Über die gelungene Menschwerdung des Affen? Über die Assimilation des zum Scheitern Verurteilten?
Warum auch immer, kommen der Rezensentin die 69 Geflüchteten in den Sinn, die sich der ehemalige Innenminister Horst Seehofer, christlich und sozial qua Parteinamen, 2018 zum 69. Geburtstag geschenkt hatte, um seinen Masterplan Migration einzuläuten. 69 zunächst gelungene, dann zum Scheitern verurteilte Integrationsversuche. Bei Kafkas Affen Rotpeter wiederum ist die Assimilation nur gelungen, weil er sich von seinem Affentum entfernt, die Vergangenheit mitsamt der Erinnerung hinter sich gelassen und jedweden Eigensinn aufgegeben hat. Und nach langem, mühevollen Üben sogar das Trinken gelernt hat – der CSU-Mann hätte seine Freude an solch einer Verwandlung: "Oans, zwoa, g’suffa!", und integriert ist der alkoholresistente Affe, bis er wieder abgeschoben wird. Spannend, diese Essener türkisch-deutsche Kafka-Inszenierung samt Subtext.
Umkehrung kolonialer Gewalt ins Künstlerische
Die Schilderung der Gefangennahme und Einkerkerung des Affen im Schiff der Hagenbeck’schen Expedition auf dem Weg zurück von Westafrika gerät weit weniger glamourös als der Varieté-reife Beginn, die Hosen werden sprichwörtlich runtergelassen, und körperliche wie seelische Narben entblößt. Die Vorgeschichte der Menschwerdung ist pure Qual, der "Ausweg" nur eine Notlösung, keine Freiheit aus der kolonialen Gewalt, da mag Rotpeter noch so jovial mit seiner Freundschaft zum Expeditionsführer prahlen. Handschlag, aufrechter Gang, Sprechen, all das sind aus der Verzweiflung heraus erworbene Fähigkeiten eines "dressurfähigen" Wesens. Und wer mit diesem Wesen zu viel Empathie hat, zu nah an den Patienten gerät, droht selbst die Identität zu verlieren, wie Rotpeters Freund und Lehrer.
Aus der Ein-Mann-Show wird im zentralen Teil des Abends ein langsamer Dreier, bei dem sich Rotpeter und seine zwei Partner mit der Erzählung und der Darstellung des Erzählten abwechseln. Die zwei Nebenfiguren in Ärzte-Weiß, der Lehrer (Dennis Bodenbinder) und eine weitere Figur, die Freund, Passagier oder Geliebte verkörpert (Shehab Fatoum), übernehmen nun den erzählerischen und pantomimischen Part. Jetzt werden auch die zuvor im Bühnenhintergrund aufgereihten Glaswände (Marlene Lücker) verschoben und bilden einen gläsernen Käfig, in dem der verzweifelte Affe seine lange Schiffsreise erleidet.
Das Spiel mit den Wänden funktioniert gut: Mal sitzt eine Affen-Figur reglos drin, mal bricht sie daraus hervor, mal wird der eine, mal der andere eingeschlossen, dann wieder freigelassen. Das erzeugt eine fast tänzerische Dynamik und ergibt, wenn sich etwa zwei durch die Glasscheibe Getrennte nachäffen, tolle Bilder, zumal die Glasrahmen mittels Wechselbeleuchtung eine ganz eigene Stimmung erzeugen können (Licht: Christian Sierau). Zwischenzeitlich nervt zwar die Hintergrundmusik, aber insgesamt ist es eine sehenswerte Inszenierung. Dass es in der kleinen Casa während der einen kurzen Stunde brütend stickig wird (Fächer mitbringen!), fast klaustrophobisch, ist vermutlich ungewollt, aber effektvoll, kafkaesk.
Kafka, Tursun, und das deutsche Ausländeramt
Zafer Tursun, 1991 ins wiedervereinigte Deutschland hineingeboren, hat ein Gespür für gesellschaftliche Verwerfungen entlang ethnisch-kultureller Grenzlinien. Seine Performance "Alphabet der rassistischen Polizeigewalt" von 2020 wurde gerade erst in Dortmund mit M und W (= Mal wieder) weiterbuchstabiert, und seine Arbeit zu Flucht, (Nicht-)Ankommen und politische Doppelmoral ("Draußen vor den Türen", 2022) klingt in seiner ersten und sehr überzeugenden Kafka-Inszenierung durch.
Interessant auch, dass Kafkas Text in Essen mit georgischem Timbre (Tschchikwischwili) und syrischem Akzent (Fatoum) dargeboten und mit einem georgischen Chanson stimmungsvoll abgeschlossen wird. Die Schauspieler haben wohl Bleiberecht in Deutschland. Kafka aber mahnt, der Regisseur weiß und wir ahnen es: Noch während in der Casa begeistert applaudiert wird, liegen in den Ausländerämtern dieser Republik schon die Pläne für die nächsten Abschiebungen bereit, nach Afghanistan, in den Kosovo, nach Eritrea. Vielleicht sind es nicht mehr 69 auf einen Streich, aber für jede*n einzelne*n aus der Schule, aus dem Beruf, aus dem Alltag gezerrten und ins Flugzeug verfrachteten Flüchtling ist damit der Affenzirkus verzweifelter Integrationsversuche aus und vorbei. Zurück in der Heimat können sie ja dann Kafka lesen.
Auf dem Rückweg vom Theater grüßt die Vonovia mit ihrer Lichtinstallation: "Vielfalt ist unsere Heimat." Kafkaesk eben.
Ein Bericht für eine Akademie
von Franz Kafka
Bühnenfassung von Zafer Tursun
Inszenierung: Zafer Tursun, Bühne und Kostüme: Marlene Lücker, Licht: Christian Sierau, Ton und Video: Mark Rabe.
Mit: Rezo Tschchikwischwili, Dennis Bodenbinder und Shehab Fatoum.
Premiere am 27. August 2022
Dauer: 1 Stunde ohne Pause
https://www.theater-essen.de
Kritikenrundschau
Die "asketisch geratene Inszenierung" sei voller subtil eingewobener, gesellschaftspolitischer Bezüge, schreibt Martina Schürmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (30.8.2022). "Tursun hat fast alles Animalische gestrichen. Kein Fitzelchen Fell, keine Vorführung zivilisatorischer Verbiegungen, kein archaisches Über-alle-Stühle-Gehen. In einer guten Stunde macht das Ensemble aus Kafkas alptraumhafte Affen-Verwandlung vielmehr ein Nachdenken über Anpassungszwänge der Gegenwart. Der Traum von Freiheit, er entpuppt sich dabei als (selbst)betrügerische Vorstellung."
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Allyship geht anders. So bitte nicht.
Wie nun nennen wir die langen Kleider, die vor allem von arabischen Frauen von Marokko bis in den Oman getragen werden? Guibba, Galabiyya, arabisches Kleid? "Orientalisches Gewand" also besser nicht.
Dennoch: die Kritik zielt(e) weder auf "gutes Meinen" noch auf "Allyship" ab, bleibt daher im Denken frei und zensiert sich nicht für hippe Zeitgeistströmungen, zumal Antirassismus älter ist als die heutigen Debatten.
tiefsinnigen, einfühlenden Mannes.
Respekt