Nur der Müller kennt die Wahrheit

3. September 2023. Mina Salehpour zeigt zum Kölner Saisonauftakt ein Stück des "persischen Shakespeare" Bahram Beyzaie. Ein legendärer Stoff aus alter Zeit, mit Anklängen an die iranische Protestbewegung unserer Tage.

Von Dorothea Marcus

"Yazdgerds Tod" von Bahram Beyzaie in der Regie von Mina Salehpour in Köln © Andreas Schlager

3. September 2023. Eine ungewöhnliche Setzung, diese Saisoneröffnung am Schauspiel Köln, der letzten Spielzeit von Intendant Stefan Bachmann: Am Vorabend eine aus dem leeren Saal heraus performte Kartographie der vielen Grenzen, die auf der Welt in die Höhe schießen, 70 genau, seit das "Ende der Geschichte" im Jahr 1989 ausgerufen wurde. Das Ganze lässig und knochentrocken durchgeführt vom nahezu unbekannten deutsch-schweizer-chilenischen Kollektiv what about: fuego.

Und nun, im Depot 1, der Hauptbühne im Carlswerk: die deutsche Erstaufführung des hierzulande nahezu unbekannten iranischen Autors Bahram Beyzaie, der im Iran als "persischer Shakespeare" gilt – mit einem Stück von 1979.

In jenem Jahr fand im Iran bekanntlich die "Revolution" statt: Die islamistischen Chomeini-Anhänger verjagten den korrupten Schah, Cholera wurde zu Pest, und bis heute sind die Iraner– vor allem für Frauen – von übelster Unterdrückung betroffen. Tausende sind immer noch in Haft nach den jüngsten Protesten im letzten Jahr. Und auch wenn hierzulande der Ruf "Frauen – Leben – Freiheit" viel weniger gehört wird und die Sittenpolizei im Iran wieder prozessiert, weigern sich die mutigen, fantastischen, starken Frauen dort immer noch, das Kopftuch wieder aufzusetzen, schreibt die Journalistin Gilda Sahebi im Programmheft des Kölner Schauspiels in einem Text aus dem Juli 2023, und dass der Kampf für Gerechtigkeit, unbeachteter vom Ausland, dort mit Kraft weitergehe.

Die Legende des ermordeten Königs

Doch mit den jüngsten Entwicklungen im Iran hat das Stück "Yazgerds Tod" auf den ersten Blick nichts zu tun. Yazgerd III. ist der letzte König des Sassanidenreichs, schwach und abhängig von seinen Heerführern, gestorben 651 n. Chr.. Er floh vor der arabischen Invasion – und starb im Hause eines Müllers. Lautet eine Legende.

YazgerdsTod4 805 Andreas SchlagerDer Müller attackiert vom General: Stefko Hanushevsky und Andreas Grötzinger © Andreas Schlager

Das Stück "Yazgerds Tod" zoomt mitten hinein: Die Heerführer haben die Leiche gefunden, drohen dem Müller und Familie wegen Königsmords mit Folter, Verbrennung, Tod. Eine glühend orange, riesige Sonnenscheibe beherrscht die bombastische, bedeutungsschwangere Bühne von Afsoon Pajoufar, die bewusst mit iranischer Herrschaftsarchitektur – etwa dem Chomeini-Mahnmal in Teheran – spielt: Morgenröte, das Symbol der iranischen Revolution, jährlich vor Ort tagelang gefeiert (unter anderem mit dem Theaterfestival Fajr) .

Manchmal deutet sich in der flackernden Sonnenscheibe eine Art von Pupille an – als sei sie zugleich ein Überwachungsorgan, manchmal leuchtet sie in kaltem Blau wie ein Nachtmond, manchmal sind körperliche Strukturen wie Ultraschallbilder darauf projiziert. Eine sanft geschwungene, luftig gebaute Mauer aus Ziegeln ist darunter aufgebaut, immer wieder werden einzelne Steine zu Folterwerkzeugen, manchmal kippen sie aber auch in Reihen um wie Dominosteine – so wie Revolutionen im Iran ja auch verlaufen können: ein Ereignis bewirkt das Nächste, bis kritische Massen erreicht sind und alles umstürzen.

Viele Versionen der Mordgeschichte

Auf dem Bühnenboden ist ein Kreis aus Erde aufgebaut, darin liegt der prächtig geschmückte Königsmantel – nicht durch Zufall wohl sieht er auch ein bisschen aus wie ein Bademantel, Missbrauchs-Insignie der mächtigen Männer. Allerdings ziehen ihn auf der Bühne viele Figuren an. Immer wieder neu: Macht ist Zuschreibung, und davon handelt das Stück in verblüffender Weise. Zunächst beginnt es bombastisch-pathetisch, auch durch die grandiose, folkloristisch anmutende Live-Musik und Gesänge des kanadischen Musikers Mark Bérubé: ein General und sein Henker entern das Haus, bedrohen die Familie, der übereifrige Vollstrecker will einen Galgen bauen, ungebrochen altertümlich deklamieren sie über edle Könige, Blutströme, Rachepflichten.

Doch die Müllersfamilie beginnt nun, verschiedene Versionen des Tathergangs zu erzählen – und nachzuspielen. Wollte der fliehende König sich von der Familie zum Suizid helfen lassen? Oder kam er unerkannt und wollte sich von den Hungrigen herrisch bedienen lassen: Fasanenfleisch und Fladenbrot – und sie töteten ihn beim Schlafen, weil sie sein Gold entdeckten? Oder aus Rache, weil er die Tochter des Hauses vergewaltigt?

Verwandlungen im Ungefähren

Fließend gehen die Szenenvarianten ineinander über. Die Müllersfrau, gespielt von Elmira Bahrami, verwandelt sich, persisch sprechend, in den König, hat eine Vision von seiner Verfolgungsjagd in der Wüste, wird, von den anderen getragen, zur entrückten Seherin. Die Tochter, Rebecca Lindauer, verwandelt sich beeindruckend vom still und passiv vergewaltigten Opfer in den dreisten, lauten Ursupator, der die Familie auf die Probe stellt, auf einmal die Müllersfrau verführt: Macht, besonders die patriarchale, ist eben willkürlich gesetzt und verteilt, und eben auch einfach nur Behauptung.

YazgerdsTod1 805 Andreas SchlagerAus Opfer mach Täter: Rebecca Lindauer im Spiel der Verwandlung © Andreas Schlager

In vielen Sprachen sprechen die Schauspieler, Persisch, Englisch, Schwedisch, Französisch, wie um zu zeigen, dass die Geschichte von universeller Bedeutung ist – und doch austauschbar, lediglich bedeutsam in der Kraft der Setzung. Fließend und kunstvoll gehen Plot-Twists, Perspektiven und Versionen der Geschichte ineinander über – das Stück ist ein Schauspielerfest, weil jeder so viele Facetten von sich zeigen kann.

Manchmal erinnert "Yazgerds Tod" an den legendären Rashomon-Film, die Wiedererzählung eines Tatbestands in völlig unterschiedlichen Interpretationen, dann wieder schließen sich die Geschichten komplett aus. Und so wird ein absolut ungewöhnlicher, spannender Abend daraus, nicht nur, weil man selbst auf einmal gespannt ist, welche Variante aus Müllersfamilie und Königsbesuch sich als Nächstes ergibt. Aus dem zunächst so ungebrochenen altertümlichen Pathos hat Regisseurin Mina Salehpour einen tiefgründigen Kommentar zur iranischen Gegenwart gemacht, und zugleich auch eine clevere und überzeugende Dekonstruktion patriarchaler Machtverhältnisse mit der Kraft des Theaters.

 

Yazdgerds Tod
von Bahram Beyzaie
Regie: Mina Salehpour, Bühne: Afsoon Pajoufar, Kostüme: Maria Anderski, Live-Musik: Mark Bérubé, Komposition: Sandro Tajouri, Dramaturgie: Lea Goebel.
Mit: Elmira Bahrami, Andreas Grötzinger, Stefko Hanushevsky, Rebecca Lindauer, Kei Muramoto, Daniel Nerlich.
Premiere am 2. September 2023
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.schauspiel.koeln

Kritikenrundschau

Mit Bahram Beyzaies Stück sei "ein Meisterwerk zu entdecken", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (4.9.23, €) –"ein Shakespeare'sches Königsdrama im Format eines Whodunits von Agatha Christie, mit Anklängen an Kurosawas "Rashomon". Und Regisseurin Mina Salehpour setze "ganz auf das intensive Zusammenspiel ihrer Akteure", so der Kritiker: "Beyzaies lakonisches Pathos blüht unter Druck erst richtig auf."

"Regisseurin Mina Salehpour lädt die klassische Krimi-Struktur mit reichlich Atmosphäre auf", schreibt Axel Hill in der Kölnischen Rundschau (4.9.2023) und lobt das "intensive Spiel". "Allein die Entscheidung, das Ensemble hin und wieder in verschiedenen Sprachen agieren zu lassen, ist nicht schlüssig."

Der Abend sei "von einem klaren Gefühl für Rhythmus und Musikalität geprägt", lobt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (4.9.2023). "Das Ungewohnteste daran ist aber seine Mehrsprachigkeit. (...) Dieses aparte Verfremdungsmittel hat einen eigenartigen Reiz und soll wohl auf die Universalität der behandelten Problematik verweisen."

Kommentare  
Yazdgerds Tod, Köln: Spenden
Paypal-Option zum einmaligen ( oder regelmäßigen) Spenden wäre sehr hilfreich,
viele Grüße

(Liebe Iris Stalter, die Paypal-Option gibt es bei uns für einmalige Spenden, hier: https://www.nachtkritik.de/spenden-fuer-nachtkritik?view=article&id=20202:nachtkritik-unterstuetzen-einmalig&catid=595:in-eigener-sache. Für regelmäßige Spenden versuchen wir diese gerade einzurichten, sind hier aber von der Freischaltung durch Paypal abhängig: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=20203:spendenkampagne-2021&catid=1459&Itemid=101004 Unsere Spendenseite erreichen Sie über die roten Banner am Ende jedes Textes oder über den Button rechts oben auf der Website. Wir freuen uns, dass Sie die Option erwägen. Ohne diese Hilfe ginge unsere Arbeit nicht! Mit freundlichen Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Kommentar schreiben