Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes - Roland Schimmelpfennig inszeniert sein Stück selbst
Pick it like Schimmelpfennig
von Kai Krösche
Wien, 19. Dezember 2010. Meine Güte, da ist wohl einiges im Argen: Bevor auch nur ein Wort gesprochen ist, setzen alle vier – Liz, Frank, Martin & Karen – bereits selten trübe Mienen auf. Betreten, bestürzt, zerknautscht, peinlich berührt kommen sie auf die kahle und enge Bühne – und schweigen zunächst mal einen langen Augenblick. Dass "es" also "eine komplette Katastrophe" war, wie Tilo Nest alias Frank dann schließlich doch bekannt gibt, das wundert wohl keinen mehr. Mit "es" meint er das feierliche Wiedersehen der beiden Medizinerpärchen (das eine Paar war fünf Jahre lang zwecks Entwicklungshilfe in Afrika) – stellt sich also nur noch die Frage nach dem "Warum".
Und aus diesem "Warum" macht Roland Schimmelpfennig ein 1 ¾ Stunden langes Katz-und-Maus-Spiel; arbeitet in guter alter Schimmelpfennig-Manier mit Vorblenden und Szenenwiederholungen, lässt immer wieder die eine oder andere Figur aus dem Geschehen hervortreten, dieses reflektieren und dann wieder zurücktreten; führt die trügerisch-heiter beginnende Geschichte folgerichtig in die Katastrophe. Und ja, sicher: Die Schauspieler machen das die meiste Zeit ganz wunderbar. Allein Christiane von Poelnitz übertreibt es – nicht zum ersten Mal – ein wenig, wenn sie sich allzu stark in ihre wimmernden Bühnenheulkrämpfe hineinsteigert, ansonsten bekommt das Wiener Publikum einwandfreies, subtiles, manchmal auch bewegendes Schauspiel geliefert.
Der fade Geschmack der Routine
Und ja, auch das: Das gleißende, geradezu unangenehm weiße Viereck, das die Bühne des Akademietheaters bereits nach einem gefühlten Meter Tiefe hinten abschließt und einengt (Ausstattung: Johannes Schütz) ist einmal mehr ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie mit einer aufs absolut Wesentlichste reduzierten Bühne die Akteure auf radikale Weise in den Mittelpunkt des Geschehens gesetzt bzw. diesem ausgeliefert werden könn(t)en.
Und ja, es steht außer Frage: Das Handwerk, das beherrschen bei dieser Inszenierung alle Beteiligten, und sie beherrschen es gut. Vielleicht zu gut. Vielleicht zu sicher. Denn so rund und gekonnt dieser Abend vor sich hinplätschert – der fade Geschmack der Routine mag nicht so recht verschwinden. Da fehlen Mut und Wut, da mangelt es an Originalität, an Explosivität. Da wird auf der Bühne lediglich ein in dieser Form altes und vor allem altgewordenes Thema ("Das westliche Bürgertum und seine wie auch immer gearteten Leichen im Keller") in eine dann auch nicht mehr ganz so innovative Erzählform gepackt, ohne dass dem Ganzen etwas Neues abgewonnen würde.
Im schlechtesten Sinne pathetisch
Sicher, es mag kein uninteressanter Ansatz des Autor-Regisseurs Schimmelpfennig sein, wenn er die anderen Darsteller während der Zwischenblenden weiteragieren lässt und damit sozusagen eine zweite Ebene, ein Spiel-im-Spiel einführt, in dem die Figuren (nicht die Schauspieler) die Masken fallen lassen, sich gegenseitig schlagen, kränken, verletzen; und ja, es gibt den ein oder anderen denkwürdigen Augenblick, in dem kurz die bürgerliche Fassade einzustürzen droht, den Blick freigibt auf etwas Dahinterliegendes – undsoweiter undsofort.
Unterm Strich aber bleibt das trotzdem alles irritierend leer, in seinem (vielleicht bewusst, vielleicht auch einfach nur ungewollt) beschränkt-naiven Blick auf die Welt aufs Unbefriedigendste nichtssagend – und in einigen Augenblicken sogar im schlechtesten Sinne pathetisch (die ganze Puppensymbolik lässt sich gar nicht ausreichend kleininszenieren, so schief und platt wirkt sie in "Peggy Pickit").
Das frustriert deshalb so sehr, weil Schimmelpfennig es ja eigentlich besser kann, wie er es letztes Jahr mit seiner ebenfalls am Akademietheater aufgeführten und zum Berliner Theatertreffen 2010 eingeladenen Inszenierung Der goldene Drache bewiesen hat: Auch da schien der Blick auf die Welt und ihre politischen Verirrungen und -wirrungen bisweilen etwas simpel, doch wurde dort nicht versucht, mittels der Präzision des psychologisierenden Sprechtheaters eine "Schärfe" im Blick auf die weltpolitischen Umstände zu behaupten. Das aber, bei aller Neigung zur Unentschlossenheit, tut "Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes" – die Inszenierung zelebriert nicht die Uneindeutigkeit, das Undurchsichtige, treibt nicht das ihr eigene Unvermögen, das Unfassbare greifbar zu machen, lustvoll und gleichsam verzweifelt auf die Spitze, sondern kommt stattdessen am Ende sogar noch diffus-moralisierend daher.
Gut gemeint
Dass die westliche Welt in ihrer Einstellung zu den Entwicklungsländern – und ihren befremdlichen, festgefahrenen Vorstellungen eines notwendigen Zusammenhangs zwischen "Hilfe" und "Dankbarkeit" – deutlich bigotter handelt als es ihr ins eitle Selbstbild passt; dass Lebenskonzepte und Wertvorstellungen von Mensch zu Mensch, vor allem von Kultur zu Kultur völlig unterschiedlich sind oder zumindest sein können und es daher falsch ist, sich selbst zum Maß aller Dinge zu erheben; dass nicht alles, das sich "Entwicklungshilfe" nennt, automatisch rein positive Folgen haben muss, sondern im schlechtesten Fall bestehende Abhängigkeitsverhältnisse gar festigen kann – das alles ist sicher gut gemeint, aber nun wirklich nichts Neues.
Da nützt es dann auch nichts, dies zum zigsten Male mit beinahe selbstverliebter Virtuosität im bürgerlich-geschützten Raum "Theater" abzuhandeln, da hat es schon andere und konsequentere – und leider viel zu früh gestorbene – Kunstschaffende gegeben, die diese Probleme auf ganz neue, nicht nur politisch, sondern ebenso künstlerisch unendlich mutigere und folgenreichere Weise thematisiert haben und schließlich angegangen sind. "Peggy Pickit" in Wien aber bleibt bei aller handwerklichen Brillanz eben nur das: unterhaltsam und folgenlos.
Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Roland Schimmelpfennig, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Peter Knaack, Tilo Nest, Caroline Peters, Christiane von Poelnitz.
www.burgtheater.at
Mehr zu Roland Schimmelpfennig gibt's wie immer im nachtkritik-Lexikon, und hier geht's zu den Nachtkritiken der Peggy Pickit-Inszenierungen in Berlin (Regie: Martin Kušej) und in Hamburg (Regie: Wilfried Minks).
Der Autor selbst hat sein Stück wieder in einem Minimalbühnenbild von Johannes Schütz herausgebracht, "es ist der Inszenierungsstil von Jürgen Gosch selig, auf den Schimmelpfennig in seiner leider sehr absehbaren Regie auch wieder zurückgreift", so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (24.12.2010). "Pures, glasklares Schauspielertheater ohne Firlefanz, das hier allerdings auch ohne Tiefgang, Schmerz, Irritationen, ohne jede Überraschung bleibt, dafür mit umso mehr Pausen, Leerstellen und Wiederholungen aufwartet." Die Wiederholungen - Textpassagen, die wie nach einem Rücklauf mit der Reset-Taste noch einmal abgespult werden – habe Schimmelpfennig selbst als Stopper, Blackouts, betonende Akzente in den Text hineingeschrieben. "Aber in keiner Inszenierung haben sie so genervt wie jetzt in seiner eigenen, wo sie so herausgestellt werden und das Tempo bremsen." Schimmelpfennig habe vier vorzügliche Schauspieler, das sei es nicht. Man hatte von ihm die mustergültige Rettung seines Stücks erwartet. Aber da sei dann doch Wilfried Minks in Hamburg der bessere Strippenzieher.
"Der Blick auf Afrika ist in erster Linie ein Blick auf sich selbst, das ist die schöne Pointe des kurzen, in Wien nicht ganz so kurzen Stücks", schreibt Stephan Hilpold in der Frankfurter Rundschau (24.12.2010). Denn Schimmelpfennigs Regie möchte viel mehr, als das etwas magere Stück hergebe. "Er inszeniert die Vorgriffe und Rückschauen, die Pausen und die Leere zwischen den Figuren, bis man irgendwann mehr weiß, als es zu wissen gibt und die Lähmung überhand nimmt." Tapfer spielen die Schauspieler dagegen an, konvulsivische Zitterpartien und rabiate Schlagabtäusche inklusive. Fazit: Vielheißelufttheater, das die Lücken der Regie nicht vergessen machen könne.
Roland Schimmelpfennig lasse durch seinen Minimalismus "den Figuren, ihren Worten und Gesten den nötigen Hallraum", notiert Ulrich Weinzierl in einer Kurzkritik (Die Welt, 21.12. 2010). Er führe sein Schauspielerquartett damit "zu Höchstleistungen" und "zeigt ein durchkomponiertes Psychodrama, in dem noch das Schweigen dröhnt". Die Blicke von Caroline Peters' Karen "erzählen ganze Geschichten der Trauer und Verzweiflung. Und Christiane von Poelnitz als Liz ist überwältigend. Dank ihr sehen wir das Gesicht Gottes. Es ist der Gott des Gemetzels."
"Schimmelpfennigs Regie ist nicht ideal", befindet Barbara Petsch (Die Presse, 21.12. 2010): "Das Hauptproblem ist, dass die Schauspieler keine Minute vergessen lassen, dass das Treffen dieser Paare – wie bereits im ersten Satz festgehalten wird – eine Katastrophe ist." Er habe damit sein Stück "kastriert". Er baue aber "eine originelle Dramaturgie, welche die Banalität, die sich aus dem Inhalt (Neokolonialismus etc.) ergeben könnte, aufhebt: Die Figuren sprechen miteinander – und beiseite. Ein uralter Theatertrick; Reales, Surreales, Zuneigung und nackte Aggression wechseln." Weniger originell sei "das periodische Starren ins Publikum". Die Schauspieler seien "sozusagen routinemäßig überzeugend". Vor allem anfangs wirke die Aufführung aber "mit ihren Wiederholungen und Sprüngen zwischen den seelischen Ebenen redundant. Trotzdem geht man mit allerlei Fragen im Kopf aus dem Theater – und das ist gewiss auch ein Zweck dieser Übung".
"Unter einer dicken Decke boulevardesker Floskeln und Gesten" trete an diesem Abend "allmählich die eigentliche Afrika-Thematik hervor, genauer: die auf schmerzhafte Weise erlebte Diskrepanz der beiden Erfahrungswelten und die angestrengte, unergiebige Diskussion darüber", schreibt Margarete Affenzeller (Der Standard, 21.12. 2010). Allerdings blieben "die Streitpunkte und so manches aufgeworfene Motiv kryptisch bis unaufgelöst". Das "mimische Präzisionshandwerk, wie es hier beispielsweise der großartigen Caroline Peters zur Verfügung steht", trage allerdings den Abend. Und auch wenn die Wiener Inszenierung knapp doppelt so lang geriet wie die Berliner, "so ist sie kurzweiliger und konzentrierter". Dennoch löse das Stück "die angepeilte Komplexität des Afrika-Diskurses auch hier nicht ein".
"Die Pausen zwischen den Dialogen und den laut gesprochenen Gedanken sind immer ein bisschen zu lang", erklärt Martin Lhotzky (FAZ, 21.12. 2010). Sie lachen auch "eine Spur zu schrill, ein wenig zu lang, ein wenig zu aufgesetzt. Irgendwann, erstaunlich spät allerdings, lacht im Publikum niemand mehr". Was in anderem Zusammenhang "wie der Holzhammer wirkt", das Wiederholen der Ohrfeigen, "trägt an diesem Abend zur Klärung bei. Es wird nie wieder gut in dieser Welt, Erste oder Dritte, egal. Aber eine andere haben diese vier und wir nicht". Und "in einigen Momenten ist es zum Weinen, aus tiefstem Herzen, aus tiefster Trauer, aus tiefstem Verstehen und aus tiefster, vor Augen geführter und gefühlter Hilflosigkeit. Diese Momente in diesem Stück sind kostbar, sind große Tragödie. Manchmal kann man dieses kathartische Gefühl eben doch noch im Theater erfahren."
In einer "zerdehnten Etüde" arrangiere Roland Schimmelpfennig "Harmonie und Dissonanzen, Forte und Piano, Keckheit und Depression. Nicht ohne wohlkalkuliertes Prickeln", schreibt Hans Haider (Wiener Zeitung, 21.12. 2010). Er sei "der Anti-Schlingensief, ruhig und ausgeglichen". Doch seine "Afrika-Heimkehrer bringen nichts als Medienfrüchte mit – nicht auf "Le Monde"-Niveau, eher aus "Bild", wie "Schwarze jagen weiße Ärzte". Die Wechselreden mit dem Kontrastpaar im Ruhrpott sichern eine moralisch entlastende Balance zwischen einer Interesselosigkeit hier und einer Aussichtslosigkeit dort". Es bleibe eine "Etüde in hohler Perfektion".
Schimmelpfennig werfe in seinem Drama zwei große Themen auf: "die Ehedramen und Identitätskrisen der zwei Paare in den Vierzigern auf der einen Seite und die globale Frage nach der Ethik der Entwicklungshilfe auf der anderen Seite". Und Letzteres stehe zwar ursprünglich im Zentrum des Stücks, "doch dem Autor gelingt der Zugriff nicht wirklich, er konzentriert sich auf die leichtere Kost in Form des Beziehungsdramas", meint Sophia Felbermair vom ORF (20.12. 2010). Er seziere seinen Text, "indem er die Figuren in knappen Abständen aus der Szene heraustreten lässt und sie ihre Gedanken aussprechen dürfen". In der Auswahl seiner Schauspieler habe er dabei "ein richtiges Händchen". Und auch im Bühnenbild wird "die Enge spürbar in die Schimmelpfennig seine Figuren drängt". Im Laufe des Abends verdichte sich das Drama, "die Ironie wird weniger, der Zynismus mehr".
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Doch das Angesicht Gottes hat sich das Artzpärchen, das sechs Jahre lang in einer Art Buschklinik gearbeitet hat, anders vorgestellt. Der hat für die beiden halt kein samtig-romantisches Schicksal vorgesehen. Die Neger sind nicht dankbar und brav, nein - kaum sind sie von der Klinik entlassen, schlagen sie sich die Köpfe ein. Und die weißen Stationsärzte sind keineswegs Helden à la Doctors Diary - Gott ist nicht gerecht. Statt dessen teilt er Watschen aus. Das Arztpärchen lebt sich, während es ziemlich viele Menschenleben rettet, gehörig auseinander.
Müde, entzweit und verstört kommen sie in die Heimat zurück und besuchen alte Freunde, so Haus-Job-Garage-Kind-Spießer. Das kann nicht gut gehen. Und tatsächlich wird dabei auch durchaus physisch gewatscht.
kann es nicht sehen
wird es nicht sehen
Was ist Gott?
(Eine) Antwort:
Gott ist ewige Glückseligkeit.
Das kleine (Peggy Pickit)Ich sagt:
ICH bin ICH -
und weiß nichts von der ewigen Glückseligkeit
Gottes.
"Die aber unten sind, werden unten gehaten / Damit die oben sind, oben bleiben. / Und der Oberen Niedrigkeit ist ohne Maß [...]. Darum, wer unten sagt, daß es einen Gott gibt / Und ist keiner sichtbar / Und kann sein unsichtbar und hülfe ihnen doch / Den soll man mit dem Kopf auf das Pflaster schlagen / Bis er verreckt ist. [...] Und auch die, welche ihnen sagen, sie könnten sich erheben im Geiste / Und stecken bleiben im Schlamm, die soll man auch mit den Köpfen auf das / Pflaster schlagen. Sondern / Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und / Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind."
Ja, wo laufen Sie denn, diese Gutmenschen, welche der Sünde womöglich voller sind als alle anderen? Oder: "Für mich ist es offensichtlich, dass die Welt leidet. Ich verstehe Gott nicht." (Lars von Trier)
Hat Kierkegaard Gott verstanden (!) als er vom Sprung in den Glauben schrieb und nicht viel mehr auf einen Kategorienfehler (darin ein Vorläufer Wittgensteins, der das im übrigen durchaus selbst ähnlich auffaßte- zur Kierkegaard- und Weiningerrezeption
Wittgensteins lohnt die Wittgensteinbiographie von Ray Monk) hingewiesen, wenn hier von "Verstehen" die Rede ist ??
Das denkbar Blödeste diese von Ihnen angesprochenen brechtschen Pflastersteinereien, verheerend gerade die Exilierung bzw. Liquidierung religiöser Denker infolge der Russischen Revolution von 1917, von Menschen, die teilweise den Vorgängeraufstand von 1905 aktiv und mutig begleitet, gestützt, mit voran getrieben haben: Ein Berdjajew kam von Marx her ! Brecht ist nicht alles, und der Bezug zu Peggy Pickit, hm. ..
"Weil ihr, sagt man, seit der Kindheit geglaubt habt, daß ein Koffer leer ist, wenn ihr nichts in ihm sehet, hieltet ihr das Leere für möglich; es ist eine Illusion der Sinne, verstärkt durch die Gewohnheit, welche die Wissenschaft korrigieren muß. Und die anderen sagen: weil man euch in der Schule gesagt hat, daß es keine Leere gäbe, hat man euren gesunden Verstand, der sie vor dem gefälschten Eindruck so gut begriff, verdorben, und ihr müßt zu eurer ersten Natur zurücklaufen. Wer hat also betrogen, diese Sinne oder die Belehrung?" (Blaise Pascal)
...manchmal hilft es einfach, an die Leere zu glauben...
Gott arbeitet nicht beim ZDF.
Wenn das Elend der Menschen von Menschen gemacht ist, leiden alle, wenn sie nicht verstehen.
Nicht an die Leere zu glauben, bringt nichts, wenn man nur noch eine Leere fühlt. Und es geht hier nicht um mich.
Ach so, alle leiden. Die Einen leiden an der Übersättigung in ihrem depressiven Luxuselend. Die Anderen an den materiellen Verhältnissen und dem damit oftmals einhergehenden Entzug grundlegender Menschenrechte. Wer kein Geld hat, hat keine Macht und damit keine Rechte. So einfach sieht das leider häufig aus. Das Einzige, was jedem Menschen an geldunabhängiger Macht bleibt, ist das Wissen. Darauf beruht der gemeinsame Kampf gegen globale Ungerechtigkeit. Wer dagegen immer nur von der allumfassenden Liebe und Verzeihung predigt, den plagt vielleicht auch nur sein eigenes schlechtes Gewissen. Eine Tragödie, dieses Verstehen-Wollen.
Leiden, Liebe...vielleicht soll man das nicht verstehen, in einer Predigt werden all belehrt.
Mit Wissen aber kann man handeln.
Mag also sein, dass es eine Tragödie ist, dieses Verstehen-Wollen. Aber dann sollten Sie jetzt auch wissen, dass manchmal Menschen aus einem diffusen Gefühl der Zuneigung heraus handeln…einfach so…
wer versteht gott schon. und dass die welt leidet, braucht man nicht erst besonders zu betonen. sünder sind wir alle, auch der "gute mensch" sündigt. warum sollte er ganz ohne sünde sein?
die "heilige" johanna würde ich sagen lassen:
die die unten sind, werden unten gehalten, und die die oben sind,
versuchen sich oben zu halten, und halten die die unten sind unten,
damit sie selber oben bleiben.
kommen nun die die unten sind nach oben (indem sie die köpf` derer
die oben sind auf das pflaster schlagen), halten sie die die dann unten sind (immer gibt es die "unteren" und die "oberen", die herrschenden und die beherrschten) unten, damit sie oben bleiben.
der oberen und der unteren niedrigkeit ist ohne maß (des arbeiters
niedrigkeit ist sprichwörtlich für die die oben sind).
sollen die oberen und die unteren (wer gerade an der macht ist)
sich gegenseitig die köpfe aufs pflaster schlagen, bis sie alle verreckt sind? - und es hilft nur, oben wie unten, gewalt, weil gewalt (in unserer welt) herrscht unter den menschen, und wo menschen sind.
die die unten sind sagen, es gibt einen gott (christlich gesprochen), oder keinen (unchristlich gesprochen), und die die oben sind sagen es ebenso.
der unsichtbare gott der keinem sichtbar ist, hilft ihnen nicht
(den oberen nicht, den unteren nicht).
der unsichtbare gott hilft nur dem gläubigen (es wird erzählt, es hätte tatsächlich schon wunder und wunderbare heilungen gegeben).
das beste ist, es mit hölderlin zu halten:
an das göttliche glauben die allein, die es selber sind.
aber bleiben wir doch bei der gewalt.
nur diese hilft, wo gewalt herrscht,
und köpfe werden auf das pflaster schlagen.
die unten sind, die oben sind
niedrigkeit und gewalt
so oben wie unten
so unten wie oben
das ist das haupt-sächlich sichtbare am menschen.
@ johanna: Ja. Genau. Ein bisschen schwanken ist nicht schlimm. Hauptsache gut. Lasst die Liebe Sünde sein. Ist das fein. Ein wahrhaft göttliches Konjunktur-Programm.
Es geht Brecht übrigens nicht um die Verabsolutierung eines blinden Gewaltfanatismus. Vielmehr geht es um das dialektische Denken. Das heisst: Es gibt Situationen, da hilft der Glaube an das Göttliche (im Menschen) einfach mal gar nicht weiter. Ich zitiere aus dem Programmheft des dt zur "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" von Nicolas Stemann:
"Weil es diese Alternative gibt, weil Wille, Entscheidung und 'Charakter' eine Rolle spielen, ist das Handeln der ökonomisch Mächtigen kritisierbar. Und weil das Schicksal von Millionen von Menschen in Deutschland wie anderswo absehbar weiterhin vom Tun und Lassen der Reichtumsklasse abhängt, ist eine Kritik, die auf Reflexion und Besserung ihrer Mitglieder zielt, ein Gebot der praktischen Vernunft. [...] Das allein wird nicht genügen, um den Gegenwartskapitalismus auf die elementaren Lebensbedürfnisse der Mehrheiten zu verpflichten. Strikte Verhaltensregeln für den weltweiten Kapitalverkehr, Richter ohne Furcht vor 'großen Tieren', handfeste Gegenwehr der Geprellten und Betrogenen - von Frankreich lernen heißt, sich wehren lernen -: ja, unbedingt. Auf das, was wir als gewöhnliche Bürger zu leisten imstande und aufgefordert sind, nur deshalb zu verzichten, weil es dem Kapitalismus kein jähes Ende bereitet, das ist nun wirklich lebensfremd, hoffnungslos naiv. Auf lange Sicht mag er einer anderen Ordnung weichen. Nur: Auf lange Sicht sind wir alle tot. Noch aber weilen wir unter den Lebenden und sind, wenn nicht für alles, so doch für weit mehr verantwortlich, als wir bequemerweise häufig meinen." (Wolfgang Engler)
Zivilrecht und Strafrecht basieren auf dem
a l l g e m e i n e n G e w a l t v e r b o t.
Im soziologischen Sinn ist Gewalt eine Quelle der Macht.
Im engeren Sinn wird darunter häufig eine illegitime Ausübung von Zwang verstanden.
Der Begriff der Gewalt und die Bewertung von Gewalt ändert sich im historischen und sozialen Kontext. Auch wird er je nach Zusammenhang (etwa Soziologie, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft u.a.) in unterschidlicher Weise definiert und differenziert.
Wie sieht es da mit jenem
Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht -
aus.
Aber das ist ja der H e i l i g e n Johanna der Schlachthöfe
in den Mund gelegt...
Und bei Brecht geht es um das dialektische Denken...
Oft wurde dem Meister die uralte Frage gestellt, warum Gott
so viel Leid zulasse. Geduldig pflegte er zu erklären:
Alles Leiden entsteht durch Mißbrauch des freien Willens.
Gott hat uns die Fähigkeit verliehen, Ihn anzunehmen oder
abzuweisen. Es liegt nicht in seinem Willen, daß wir Schmerzen leiden; doch er greift nicht ein, wenn wir uns zu einem Handeln entschließen, das uns Leid bringt.
(Was geschieht nun aber, wenn sich andere entschließen zu einem Handeln das uns Leid bringt?)
Der Meister:
Die Menschen beachten den weisen Rat der Heiligen nicht,
erwarten aber, durch ungewöhnliche Umstände oder irgendein Wunder errettet zu werden, wenn sie in Not sind. (...)
(Der religiöse Mensch erwartet solches vielleicht, der nicht-religiöse aber erwartet viel weniger, oder gar nichts - und verzweifelt.)
Der Meister:
Der Herr hat euch freien Willen verliehen und kann deshalb nicht wie ein Diktator handeln. Obwohl er Allmacht besitzt, befreit er
euch nicht einfach von eurem Leid, wenn ihr den Weg falschen Handelns gewählt habt. Ist es recht zu erwarten, daß Er euch von aller Last befreit, wenn ihr mit euren Gedanken und Handlungen ständig gegen seine Gesetze verstoßt?
Befolgt Seine ethischen Grundsätze, wie Er sie in den Zehn Geboten niedergelegt hat; darin besteht das Geheimnis des Glücks.
(- schlussendlich also die christliche Ethik auf die es ankäme...)
die bejahung des lebens ist von nietzsche und anderen lebensphilosophen doch schon vielfach bedacht worden, impliziert jedoch im falle nietzsches die bejahung auch von leid, krankheit,
und der grausamkeit des lebens (und des menschen)
und die formel, das was mir gut tut, bejahe ich, das was mir nicht gut tut, verneine ich - lässt sich doch auf den überwiegenden groß-teil der menschen anwenden - -
und wenn ein mensch den glauben an einen gott für sein wohlergehen
braucht, sollte man ihn darin auch nicht beirren wollen...
manche in unserer zeit versuchen auch, in ihrer weise, ein neues bündnis zu ihrer "vorstellung von gott" einzugehen - -
die gottlosen und die gerechten:
warum sollte es einem gottlosen schlechter ergehen
als einem "gerechten" (im christlichen sinne), der von christlichen
idealen spricht als "guter christ", und sonst wie alle welt ist?
Ich würde zudem nicht davon ausgehen, dass der Glaube etwas mit Moral zu tun hat oder anders herum, dass der Begriff der Moral religiös bzw. christlich geprägt ist. Mir geht es vielmehr um die Bejahung einer (politischen) Haltung, welche Unrecht nicht nur erkennt und erträgt, sondern sich für Veränderung stark macht. Es gibt die Farbe grün für die Hoffnung, es gibt aber auch den Film "The Green Wave" von Ali Samadi Ahadi - als nur ein Beispiel. Es geht um eine kreative Neugestaltung untragbarer Verhältnisse.
Welche moralischen Meinungen, Handlungsweisen und Emotionen Individuen faktisch haben untersucht die Moral-Psychologie.
Moral ist ja Gegenstand diverser Wissenschaften.
Ethik eine Disziplin der Philosophie.
Und Moral im Kontext sozialer Einheiten oder Organisationen
ist einer der Gegenstände der Gesellschaftswissenschaften.
Und ich selbst? Ich bin ja auch ein starker Zweifler, und der
"atheistische" Buddhismus liegt mir ziemlich nahe.
Ganz gleich welche Religion, es geht mir vielmehr um religio,
religare - zurückbinden an den Ursprung...
"Die andere Etymologie verweist auf relegere, im Sinne von sammeln, auflesen, zu einer genauen Untersuchung an sich nehmen. [...] Das Gemeinsam-Sein unterstellt ein gemeinsamens Sein, eine Gründung, ein Prinzip und ein Ziel, in dem die 'Glieder' ihren Sinn und ihre Wahrheit finden. Doch muß man auch verstehen, daß diese Gemeinschaft, als Paradigma eines modernen Denkens, im Innersten ihrer religiösen Bestimmung die tendenzielle Auslöschung der Religion im eigentlichen Sinne enthält zugunsten einer Zelebrierung der Gemeinschaft selbst als lebendiger Körper der Einheit. Es verhält sich hier wie im gesamten 'Säkularisation' genannten Prozeß: Der Sozialkörper übernimmt die Funktion des mystischen Körpers und der Souverän (das Volk) übernimmt die göttliche oder christliche Identität."
Über das soziale und politische Band des Gesellschaftsvertrags hinaus verweist Nancy nun auf die Notwendigkeit des 'anderen' dieses Vertrags:
"Das 'andere', was der Vertrag voraussetzt, gehört der Ordnung des Glaubens an. [...] Der Glaube gehört nicht der Ordnung des Wissens an, sondern der Anhängerschaft oder der Teilhabe [...]. Wie Valéry sagt: 'Die Gesellschaft ist ein fiduziärer Funktionszusammenhang. Sie setzt Credo oder Kredit voraus.' Doch dieses 'Credo oder Kredit' ist der Akt eines Glaubens, der in nichts anderes gesetzt ist als in die Gesellschaft selbst. Die fiance, das Trauen ist Vertrauen, con-fiance, weil es sich dem Ko- der Ko-Existenz anvertraut, oder vielmehr, das Ko- ist nur möglich als ein Vertrauen in sich selbst. Für sich aber ist das Ko- nichts, es sei denn genau der Akt dieses Vertrauens."
Diese untersucht die metaphysischen, erkenntnistheoretischen,
semantischen und psychologischen Voraussetzungen und Implikationen
moralischen Denkens, Sprechens und Handelns.
Es kann keine Rede davon sein, dass der Begriff der Moral nicht vor allem religiös, beziehungsweise christlich geprägt wäre im christlichen Abendland.